Arbeiten mit Risiko: Wo die Gefahr am größten ist

Wann passieren am meisten Arbeitsunfälle? Kanadische Psycholog*innen haben eine überraschende Antwort. 

Nein, es geht hier nicht darum, besondere gefährliche Arbeitsplätze zu beschreiben, sondern zu schauen, wie Menschen mit den Risiken umgehen. Ein kanadisches Forschungsteam hatte dazu eine Hypothese – und konnte sie in insgesamt vier Studien bestätigen.

Erste Überraschung: Die Forschenden kommen nicht aus der Arbeitsmedizin, sondern aus der Psychologie. Das ist deshalb wichtig, weil das Team aus verschiedenen psychologischen Theorien heraus mit einer auf den ersten Blick erstaunlichen Überlegung an den Start ging.

Zweite Überraschung: Nicht an den gefährlichsten Arbeitsplätzen passieren am meisten Unfälle, sondern dort, wo ein moderates Unfallrisiko besteht. Die Kurve der Unfallhäufigkeit bildet damit ein auf dem Kopf stehendes U: Bei geringem Risiko und bei besonders hohem Risiko ist die Unfallwahrscheinlichkeit niedrig, bei mäßigem Risiko vergleichsweise hoch. Die Ausgangsthese wurde damit bestätigt.

Dafür wertete das Forschungsteam zunächst eine Datenbank des United States Bureau of Labor Statistics aus und verglich das eingeschätzte durchschnittliche Risiko der verschiedenen Tätigkeiten mit der tatsächlichen Häufigkeit von Arbeitsunfällen. Das Ergebnis zeigt, … richtig: das umgedrehte U.

Noch präziser ist eine Auswertung maritimer Zwischenfälle, die im Canadian Transportation Safety Board registriert sind – inkl. der klimatischen Bedingungen (Wind und Wellen) zum Zeitpunkt der Havarie. Auch hier zeigt sich das umgedrehte U.

In Studie 3 und 4 sollten Menschen an Bildschirmen in simulierten Arbeitssituationen zum Beispiel entscheiden, wie sie Dinge lagern: schneller in einem nahen Bereich mit wackligeren Regalen – mit dem Risiko von Einstürzen, oder langsamer in einem weiter entfernten Bereich mit stabileren Regalen. Durchläufe mit verschiedenen Risikostufen zeigen für alle Teilnehmenden zusammen wieder die umgedrehte U-förmige Kurve.

Die Spielanordnung in Studie 3 und 4 erlaubte zusätzlich eine Differenzierung nach Risikofreude der Testpersonen: Besonders sicherheitsbewusste Menschen hatten eine sehr flache Kurve; sie gingen bei steigendem Risiko besonders vorsichtig vor, sodass das Risiko kaum anstieg. Dafür mussten sie Zeitverluste in Kauf nehmen. Die Gruppe der risikofreudigeren Teilnehmenden zeigte hingegen ein besonders stark gekrümmtes umgedrehtes U.

Alle Testpersonen wurden bei steigendem Risiko vorsichtiger, steuerten also zum Beispiel vermehrt weiter entfernte sichere Regale an. Die meisten von ihnen verstärkten die Vorsichtsmaßnahmen aber linear im gleichen Maß, wie das Risiko stieg – und das genügt nicht, um die Unfallwahrscheinlichkeit gleich niedrig zu halten wie bei geringem Risiko. Erst bei einem wirklich hohen Unfallrisiko wurden sie sehr vorsichtig – und senkten so die Zahl der Unfälle wieder.

Tatsächlich wäre schon bei einem moderat gestiegenen Risiko eine scharfe (nicht-lineare) Steigerung im Sicherheitsverhalten notwendig, um das Unfallrisiko konstant niedrig zu halten. Den meisten Menschen ist das nicht bewusst, vermuten die Autor*innen der Studien – und empfehlen in erster Linie, Arbeitende hierüber aufzuklären. Die Anpassung des Vorgehens an die jeweilige Situation könne durch Training verbessert werden – mit besonderem Fokus auf Situationen mit moderatem Risiko.

Quellen

Beck JW, Nishioka M, Scholer AA, Beus JM: Moderation in all things, except when it comes to workplace safety: Accidents are most likely to occur under moderately hazardous work conditions. Personnel Psychol 2023; 1–33

 

NP-DE-MLV-BRFS-230008, Aug. 2023